moveurope! Interviewreihe - Was bedeutet Bewegungs(un)freiheit in Europa für Dich?

Vater von Karla Kästner, der Vereinsleiterin von migration_miteinander, kam in den 70er Jahren als Spätaussiedler mit seiner Familie aus Rumänien nach Deutschland. 

Die Familie beantragte Asyl, da sie in Rumänien aufgrund der Ceausescu Diktatur nicht mehr leben wollte. Wie er Bewegungsfreiheit als Geflüchteter in Europa damals erlebte, was es mit den Spätaussiedlern auf sich hat und warum er heute einen ganz anderen Namen trägt, erfahrt ihr in unserem Interview. 

Vom Flüchtlingspass zum World Citizen

Seit wann bist Du in Deutschland und warum?

Meine Familie und ich sind am 05. Oktober 1975 als Flüchtlinge in die BRD eingereist.

Das war nur möglich, weil mein Vater als Arzt schon seit 1967 vom rumänischen Staat nach Marokko geschickt wurde und somit aus Rumänien ausreisen durfte. Rumänien und Marokko hatten damals bestimmte Abkommen, sozusagen wie Entwicklungshilfeabkommen, genauso wie auch Frankreich und Marokko. 

Als Rumäne konnte man damals nicht so einfach das Land verlassen – mein Vater schon, dank der Arbeit in Marokko und wir als seine Angehörigen auch um ihn zu besuchen – natürlich immer nur für eine begrenzte Zeit und mit Visum. Als wir 1975 wieder einmal alle zusammen in Marokko waren, beschlossen meine Eltern nicht mehr nach Rumänien zurückzukehren, weil sie unter der Diktatur in ihrer Freiheit eingeschränkt waren und sie schon öfter außer landes waren und festgestellt hatten, dass wir Kinder in Rumänien nicht die besten Möglichkeiten hatten, z.B. sollte mein Bruder zur Armee. Für mich und meinen Bruder war das damals nicht so leicht – wir hatten uns von unseren Schulfreunden vor den Ferien verabschiedet und auf das Wiedersehen danach gefreut – das es niemals wieder gab…Meine Eltern überlegten dann, wo wir hingehen könnten: in Marokko konnten wir nicht bleiben, da mein Vater und Bruder sonst wegen der bilateralen Abkommen als Deserteure zurück nach Rumänien hätten gehen müssen. Wir überlegten nach Kanada oder in die USA auszuwandern, allerdings hätten wir dort als Asylsuchende nicht direkt arbeiten dürfen. Da mein Urgroßvater väterlicherseits aus Siebenbürgen war, beschlossen wir dann nach Deutschland zu gehen, weil wir dadurch bestimmte Vorteile hatten, wie zum Beispiel direkter Zugang zum Arbeitsmarkt.

Wer ist denn Siebenbürgen? 

Als Siebenbürgen bezeichnet man Deutsche, die ab dem 12. Jahrhundert dem Kolonisationsaufruf des ungarischen Königs folgten und sich in Siebenbürgen (Transsilvanien) niederließen, um die Gegenden dort neu zu besiedeln und zu bewirtschaften. So kommt mein Vater aus einem Dorf, das damals von Deutschen verwaltet wurde. Der Großvater trug vor seiner Hochzeit noch einen deutschen Namen, Kondra. In dem Dorf gab es Rumänen, Deutsche, Ungarn.  Deshalb konnte mein Vater auch etwas Deutsch. In Deutschland werden die Siebenbürger auch als Spätaussiedler bezeichnet. Alle Spätaussiedler mussten sich damals in Friedland, in Hessen, registrieren lassen – so auch meine Eltern. Normalerweise kommen die üblichen Spätaussiedler direkt dorthin, also Russlanddeutsche, Wolgadeutsche, Siebenbürgersachsen usw. Üblich war auch, dass Deutschland seine Staatsbürger “zurückkauft”, d.h. Zum Beispiel Rumänien sagt: wir sind bereit, euch 200 Schwaben zu geben, jeder kostet 20.000 Mark – und dann hat Deutschland sie “zurückgekauft”, denn das sind Deutsche, die zu Deutschland gehören, auch wenn sie vor Jahrhunderten ausgewandert sind. Das gleiche passiert ja zum Beispiel mit Israel und Juden in Eritrea oder Marokko. Diese Menschen sind immer Willkommen, als Arbeiter*innen, als Steuerzahler…was auch immer – weil sie eben dazu gehören. 

Bei uns lief das damals anders: wir sind eigenständig eingereist und hatten schon einen Tag nach unserer Ankunft durch Kontakte eine Wohnung ergattert und einen Monat später hat mein Vater schon angefangen zu arbeiten; trotzdem mussten auch wir uns in Friedland registrieren, um Asyl beantragen zu können. 

Was bedeutete Bewegungsfreiheit damals für dich? Hast du dich in Deutschland freier gefühlt, als in Rumänien? 

Ich habe mich überall frei gefühlt, da ich damals in Rumänien als Jugendlicher keine großen Schwierigkeiten mit den Behörden hatte. Meine Eltern waren in Rumänien eingeschränkt. Allerdings hatten wir als Familie immer dank der Arbeit meines Vaters in Marokko das Privileg, auch ausreisen zu können. Als Kind bzw. Jugendlicher bin ich mehrfach mit meiner Mutter und Bruder nach Marokko zu meinem Vater gereist – einmal mit dem Flugzeug und sonst immer mit dem Auto oder Bus, wobei wir einmal von Rumänien bis Marokko durch ganz Europa gefahren sind…Als wir dann in Deutschland waren, konnten wir nicht mehr überall hinreisen oder -gehen, wo wir wollten. Zum Beispiel wollte ich nach dem Abitur nach Frankreich zum Studium gehen – was damals nicht möglich war. Das verfolgt mich bis heute, weil ich damals dachte, ich wäre frei – aber ich war nicht frei mich zu bewegen, wohin ich wollte, genauso wenig wie die Leute heute. 

Wie war das damals als du für dein Studium nach Frankreich wolltest, aber nicht gehen konntest? 

Nachdem wir in Deutschland ankamen, war ich 17 und sollte zur Schule gehen. Ich bin damals in der Schule direkt zum Französischlehrer und habe gefragt, ob ich wie ein “Gastschüler” in verschiedene Klassen reingehen kann, um die Schule und die Schüler kennenzulernen. Leider war das natürlich nicht möglich, ich müsse zunächst Deutsch lernen und solle erstmal ein Goethe Zertifikat machen, damit ich überhaupt kommunizieren kann. Also sind mein Bruder und ich – auch auf Anraten von Bekannten – nach Haselroth gegangen. Das ist eine Förderschule für Spätaussiedler, die gar kein Deutsch können. Die war speziell auch für die gedacht, die in Friedland ankamen. Dort waren alle verschiedenen Altersgruppen und Nationalitäten vertreten, man konnte dort auch wohnen, essen und eben Deutsch lernen – das musste man allerdings alles selbst bezahlen, was uns am Anfang auch keiner gesagt hatte. So sind wir dort in die Förderschule gegangen und haben Polnisch und Russisch gelernt (lacht) – Deutsch war Unterricht, den ganzen Tag. 

Als ich dann nach dem Abitur Medizin studieren wollte, war das wegen dem Numerus Clausus schwer in Deutschland. Da ich mich Frankreich und der französischen Sprache sowieso näher fühlte, wollte ich gerne nach Frankreich gehen, bewarb mich und erhielt sogar eine Zusage. Die Franzosen hätten mich auch reingelassen, aber nicht zum Studieren, nur für Tourismus; ich war damals zwar in wohnhaft in Deutschland und hatte einen Fremdenpass, war aber noch Rumäne. Also wollte man damals vermeiden, dass ich nach Frankreich komme, mich immer wieder immatrikuliere, aber kein Geld habe und dem Französischen Staat irgendwann auf der Tasche liege…Also hat Frankreich damals einen Beweis verlangt, dass die rumänische Botschaft für mich verantwortlich ist – und das wollte ich natürlich nicht, da ich auf keinen Fall mit den rumänischen Behörden zu tun haben wollte – also konnte ich nicht gehen. Wir wussten, dass die rumänischen Behörden Spitzel überall hatten. Man konnte damals nicht frei telefonieren, alle Auslandsverbindungen nach Rumänien wurden damals von der Regierung abgehört. Es gab damals z.B. das Radio Free Europe in München, wo es Sonntags immer eine Sendung mit Musik gab, die ein rumänischer Sprecher moderierte, der die Regierung in Rumänien oft kritisierte und für mehr Freiheit war – und siehe da, bis heute weiß man nicht, wer ihn auf dem Parkplatz mit dem Messer umgebracht hat…

Nachdem ich nicht nach Frankreich gehen konnte zum Studium, bin ich zum Akademischen Auslandsdienst in Deutschland gegangen und habe mich darüber für einen Ausbildungsplatz in Medizin beworben. Zuvor hatte ich mich in ganz Deutschland bei allen Universitäten beworben, leider ohne Erfolg. Also habe ich zuerst Informatik in Darmstadt studiert, dann habe ich mich nochmal für Medizin über den Akademischen Auslandsdienst beworben und sofort den Studienplatz in Tübingen erhalten. Das war damals in etwa wie eine Quote für Ausländer: es gab einen Studienplatz für Medizin für Ausländer in Tübingen – und den habe ich bekommen, das war großes Glück. 

Was ist ein Fremdenpass? 

Der Fremdenpass von damals ist so ähnlich wie der Flüchtlingsreisepass heute. Damit durften wir nur für Tourismus in andere Länder reisen. Meine erste Reise aus Deutschland raus (ich mit dem Flugzeug, mein Bruder mit dem Bus) war nach Lloret de Mar (Spanien) nach dem Abitur. Wir wollten damals mit unserer Abschlussklasse mit, aber die sind nach Berlin gefahren und ich konnte nicht in oder durch die DDR reisen, da das Risiko zu hoch war, nach Rumänien abgeführt zu werden, da ich noch Rumäne war. 

Und weil Du nicht überall hin durftest mit dem Fremdenpass, hast Du dir dann einen World Citizen Passport geholt? 

Es gab damals eine weltweite Bewegung, die sich dafür einsetzte, dass alle Menschen auf dieser Welt gleich sind und die gleichen Rechte haben sollten, sie waren gegen Nationalstaaten und Grenzen. Sie waren für einen “Weltstaat” mit “Weltbürgern” mit gleichen Rechten. So wurde auch der World Citizens Passport ins Leben gerufen – den konnte man sich online für 100 Dollar oder sowas bestellen. Es gibt ja auch den Nansen Pass, der ist allerdings nur für Staatenlose, also Menschen denen ihre Staatsbürgerschaft aberkannt worden ist. 

Damals hatte ich gedacht: wenn ich die deutsche Staatsbürgerschaft nicht bekomme, die rumänische aber auch nicht behalten möchte, was dann? Also habe ich mir den World Citizen Passport bestellt – allerdings ist das kein offizielles Ausweisdokument, damit wird man wahrscheinlich ausgelacht an der Grenze (lacht), habe ich aber nie ausprobiert….

Auf deinem deutschen Ausweis steht heute ein anderer Namen, als dein richtiger Name, stimmt das?

Ja. Als ich und meine Frau in Deutschland in den 90er Jahren heirateten, nahmen wir zunächst meinen Namen an. Leider hatten wir aufgrund des Namens verschiedene Probleme, zum Beispiel bei der Wohnungssuche, und es war jedesmal ein Kraftakt bei Behörden, in Geschäften, egal wo: niemand wusste, wie man unseren Namen schrieb, keiner konnte ihn aussprechen. Als ich die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt, hatte ich die einmalige Möglichkeit meinen Namen zu ändern – und das tat ich dann. Der Nachname, den ich jetzt trage, kommt übrigens von der angeheirateten Frau meines Bruders – hat also eigentlich nicht wirklich etwas mit uns zu tun, wir konnten ihn aber damals annehmen, weil mein Bruder eben auch so hieß. Meinen eigentlichen Namen gibt es nicht mehr – jedenfalls nicht auf dem Papier. In mir aber schon. Nach so vielen Jahren in Deutschland kann ich sagen, dass ich ein Mensch ohne Identität bin – ich fühle mich weder als Deutscher, noch als Rumäne.

Vielen Dank für das sehr eindrückliche Gespräch!

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